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Christian E. Weißgerber redet über rechtsradikale Kräfte und seinen Ausweg aus der Nazi-Szene

Kurz vor den Weihnachtstagen wurde es in der Aula des Berufskollegs Rheine des Kreises Steinfurt noch einmal ernst und politisch: Christian E. Weißgerber berichtete als Aussteiger aus der rechtsextremen Szene über seinen persönlichen Weg in die Szene und aus der Szene heraus. Bereits die Organisatorin des Vortrags, Lehrerin Karoline Bringemeier, machte auf die wachsende Bedeutung des Themas aufmerksam, weshalb die Veranstaltung nicht nur als Vortrag, sondern vor allem auch als Austausch geplant worden ist. Klassen verschiedenster Bildungsgänge nutzten die Gelegenheit, einen ehemaligen rechten Vordenker über seine individuelle und die gesamtgesellschaftliche politische Entwicklung sprechen zu hören. Nach einem ausführlichen Vortrag gab es im zweiten Teil der Veranstaltung reichlich Gelegenheit, Fragen zu stellen, Hintergründe zu hinterfragen und den Weg Weißgerbers zu reflektieren.

Dieser begann seinen Vortrag über Rechtsextremismus mit dem Bild eines „Mosaiks der Brauntöne“: Parteien, Gruppierungen, Immobilien und vieles mehr stünden nicht alle unmittelbar im Zusammenhang, aber die Gesamtheit einzelner Teile bilde das Spektrum des Rechtsextremismus. Dabei gehe die Vernetztheit von ländlichen Siedlern über Parteien bis zu radikalen Christen – man könne auch innerhalb einer Partei sehen, wie das Personal verschiedene Strömungen bediene und zusammenführe. Dass insgesamt die Größe der rechtsextremen Szene zunehme, die Aussteigerquote aber aktuell bei etwa 1% liege, verdeutliche das Problem.

In seinen Ausführungen ging Weißgerber auf die historische Entwicklung ein – etwa die Voraussetzungen und Folgen der Wiedervereinigung – und schlug von dort den Bogen zu Gesprächen im Freundeskreis und in der Familie. Über zahllose Aussagen, „was früher alles schöner war“ aus Sicht der Eltern und Großeltern, könne man nicht den einen Hebel benennen, der umgelegt wurde und ihn zum Nazi machte. Dabei sei es inzwischen deutlich, dass in der Retrospektive grundsätzlich Nachteile ausgeblendet und positive Aspekte überhöht werden würden.

Auch lokale und regionale Faktoren erwiesen sich für den Weg in die Szenen als prägend: Er sei als Eisenacher (mit der Wartburg als Luthers Versteck), als Thüringer und als Deutscher sozialisiert worden. Auch, wenn der Blick dabei negative Aspekte deutlich ausgeblendet habe, sei damit der Weg aus verschiedensten gesellschaftlichen Kreisen in die rechte Szene ermöglicht worden. Die deutliche Separierung innerhalb Eisenachs mit Villenvierteln einerseits, koksbeheizten Arbeiterunterkünften andererseits habe verschiedenste Rechtsradikale mit unterschiedlichsten Zielen zusammengebracht.

Ein anderes Einfallstor für rechtes Gedankengut waren die sogenannten Schulhof-CDs, die neben amerikanischem und deutschem Rap auch extrem rassistische Lieder in der Playlist hatten, die zunächst als ‚witzig‘ gerechtfertigt worden seien. Die Frage: „Warum wird man Nazi, wenn eigentlich alle Leute das als dumm und dämlich wahrnehmen?“ sei dann auch analog zu den Songtexten durch einprägsame Zitate beantwortet worden, beispielsweise: „Der Sieger schreibt die Geschichte,“ was in seiner damaligen Perspektive sehr plausibel geklungen habe.

Da die wachsenden Fragen in der Schule erfolgreich waren und auch die Lehrenden in Erklärungsnöte brachten, habe sich die Einstellung und Haltung immer weiter verfestigt. Erst viel später sei dann deutlich geworden, dass manche Vergleiche aus der Logik des rechten Gedankenguts einfach nicht zu halten sind: Ein über Jahre geplanter Holocaust sei in seiner Entstehung und Wirkung nicht mit Fliegerangriffen im Krieg gleichzusetzen.

Den Eintritt in radikalere Schichten erläuterte Weißgerber über die Beschreibung von Glaubensritualen, ob heidnisch oder christlich motiviert. Sein persönlicher Weg sei vor allem über die Militarisierung verlaufen, bis hin zur Einstellung, den Körper als Waffe einsetzen zu können, auch wenn aus heutiger Sicht ein echter Anlass dafür nicht festzustellen sei. Schlussendlich räumte er aber auch mit dem Vorurteil auf, dass der klassische Nazi neuerer Prägung noch immer ein glühender Verehrer Hitlers sein müsse. Auch hier sei die Szene breit gefächert, Hitler aber keinesfalls das allgegenwärtige Idol.

Nach kurzen Gedanken darüber, welchen Bildungsauftrag Schule erfüllen muss, um nicht nur Fachwissen, sondern auch echten Gedankenaustausch ohne Schwarz-Weiß-Zuspitzungen zu ermöglichen, ging Weißgerber ins Gespräch mit dem Publikum, dessen Fragen er offen und unumwunden beantwortete.

Bereits der Auftakt, ob er auch Gewalt angewendet hätte, forderte ihn heraus und gewährte Einblicke in eine rechte Szene, in der rivalisierende Gruppen und Strömungen Gewalt herausgefordert hätten.

Auch die Frage nach dem Ausstieg beschäftigte die Zuhörerinnen und Zuhörer in der Aula. Der Vortrag zielte zwar deutlicher darauf ab, gar nicht erst in die Fänge der Neonazis zu geraten, trotzdem äußerte Weißgerber, wie viele Gespräche er mit nicht radikalisierten Freunden führen musste, bis er seine eigenen Positionen hinterfragte und sich aus der Szene zurückgezogen hat. Dass er nun Mitmenschen vor den gleichen Fehlern bewahren will, führt ihn durch die Lande und damit auch zum Berufskolleg. Das Berufskolleg bedankt sich für den kenntnisreichen, reflektierten und offenen Vortrag, der sicherlich noch lange in den Köpfen der Zuhörerinnen und Zuhörer nachhallen wird.

Die Veranstaltung wurde gefördert und unterstützt durch das Kommunale Integrationszentrum und die AWO Unterbezirk Münsterland-Recklinghausen im Rahmen der Partnerschaft für Demokratie Kreis Steinfurt sowie des Bundesprogramms „Demokratie leben!“ des Ministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.